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Liebe Leser, liebe Eltern, liebe Angehörige
Diese Broschüre entstand in Anlehnung an eine Wanderausstellung, die wir im Februar 2001 in Hannover besucht haben.
Den Großteil der Texte haben wir wörtlich übernommen, so dass wir auch den dort vorgegebenen Fachausdruck „Co-Abhängigkeit“ verwenden. Wir möchten uns allerdings von der in der Fachwelt vertretenen Meinung distanzieren, dass jeder, der mit einem Süchtigen in engem Kontakt steht, automatisch co-abhängig und somit selbst „krank“ ist. In Einzelfällen kann allerdings aus suchtunterstützenden Verhaltensweisen Co-Abhängigkeit entstehen.
Wir hoffen, Ihnen mit diesem Heft neue Denkanstöße und vielleicht sogar Hilfestellungen geben zu können.
Co-Abhängige sind Co-Piloten und Compagnons
Die kleine Silbe „Co“ heißt zusammen/ gemeinsam. Co-Abhängige sind Partner und Begleiter, Verbündete und Komplizen von Süchtigen.
Co-Abhängige sind Menschen, die sich immer mehr auf das Leben eines Süchtigen fixieren.
Co-Abhängige wollen Süchtigen helfen. Sie machen sich Sorgen, decken Süchtige, suchen Schuldige.
Co-Abhängige brauchen es gebraucht zu werden. Sie helfen dabei weder dem Süchtigen noch helfen sie sich selbst. Ihre Hilfe wird zu einer Sucht.
Co-Abhängige beschuldigen den Süchtigen, ein schlechter und willensschwacher Mensch zu sein. Sie machen ihm ständig Vorwürfe oder ihn für alles schuldig.
Co-Abhängige fixieren sich auf die Probleme von Süchtigen. Sie denken ständig an den/die Süchtigen und versuchen, Lösungen für sein/ihre Probleme zu finden. Die eigenen Interessen sind ihnen weniger wichtig als die Sucht des anderen.
Co-Abhängige managen jede Krise
Menschen, die mit einem Süchtigen zusammenleben, sind es gewohnt mit Krisen zu leben. Sie reagieren auf jede Aufregung und spielen Feuerwehr, wenn es brennt. Sie meistern jede Krise.
Co-Abhängige wollen dem Süchtigen helfen – und ihn verändern
Für Co-Abhängige:
Sie verwechseln Mitleid mit Liebe. Sie verlieben sich in Menschen, die ihnen Leid tun. Sie glauben immer wieder, dass sie mit ihrem Verhalten wirklich etwas ändern oder dem Süchtigen helfen können, wenn sie nur
– noch mehr Verständnis haben
– noch größere Szenen machen
– noch geduldiger sind
– noch hilfsbereiter, noch liebevoller sind
– noch mehr Druck machen
– noch besser das Leben des Süchtigen managen
– noch härtere Konsequenzen androhen
– noch mehr Vorwürfe machen.
… wenn sie noch mehr lieben…
Für Süchtige:
Süchtige sind mit ihrer eigenen Not und mit ihrer Sucht konfrontiert, wenn die Hilfestellungen, Ratschläge, Vorwürfe und Szenen wegfallen. Somit haben Süchtige die Chance, selbst die Entscheidung zu treffen, clean zu werden. Sie werden mit ihrer Realität konfrontiert und spüren, dass sie für ihr Leben verantwortlich sind. Sie fühlen sich nicht mehr so angegriffen, können ihre Abwehr verringern. Scham und Schamgefühle werden weniger. Hoffnung wird wach – sie sehen am Beispiel der Angehörigen, dass das Leben schön sein kann.
Auswirkungen von Co-Abhängigkeit
Für Co-Abhängige:
Co-Abhängige kommen ebenso wie Süchtige nicht mehr mit ihrem Leben zurecht. Sie entwickeln die selben Symptome wie Süchtige: Scham, Angst, Minderwertigkeitsgefühle, Mutlosigkeit, Überforderung, Unbeherrschtheit, Schlafstörungen, psychosomatische Erschöpfungszustände, gestörtes Denkvermögen, Verzweiflung bis hin zu Selbstmordgedanken und – versuchen.
Co-Abhängige laufen Gefahr, selbst süchtig zu werden. (Medikamentenmissbrauch, Putzsucht, Alkoholismus, Esssucht…)
Für Süchtige:
Süchtige haben fast immer einige Co-Abhängige an ihrer Seite. Co-Abhängige unterstützen sie in ihrer Sucht, oft ohne deren Wissen durch ihr Helferverhalten. Helferverhalten sind: Süchtige mit Geld zu unterstützen, sich für sie Ausreden einfallen zu lassen, ihnen Aufgaben abzunehmen…
Diese Formen von Hilfe sind falsch verstandene Hilfe! Sie helfen dem Süchtigen nicht, seine Sucht zu überwinden, da er die Folgen seiner Sucht nicht mehr zu spüren bekommt. Der „Helfer“ (= Co-Abhängige) nimmt sie ihm ab. Der Süchtige kann seine Sucht weiter ausleben.
Süchtige fühlen sich kontrolliert und bevormundet. Dadurch ziehen sie sich immer weiter zurück und wehren alle Hilfsangebote ab.
Süchtige fühlen sich noch mehr als Versager, weil die „Hilfe“ nicht wirkt.
Süchtige erleben durch die Hilfe des Co-Abhängigen keine Not. Es gibt keinen Grund, etwas zu ändern.
Co-Abhängige manipulieren Süchtige
Co-Abhängige versuchen, süchtiges Verhalten zu verhindern.
Sie schütten Alkohol weg, lassen Drogen verschwinden, verstecken Süßigkeiten. Sie versuchen, dem Süchtigen Unangenehmes zu ersparen, ihn von schlechten Einflüssen fernzuhalten. Sie kontrollieren seine Kleidung. Sie geben ihm Geld oder halten ihn knapp mit Geld.
Co-Abhängige meinen zu wissen was für den anderen gut ist
Co-Abhängige trauen dem Süchtigen immer weniger zu. Sie treffen seine Entscheidungen und tun Dinge, die er eigentlich selbst tun sollte.
Co-Abhängige sind überzeugt davon, dass alles wieder gut wird, wenn der Süchtige nur ihre Ratschläge befolgen würde. Sie verkennen die Macht der Krankheit und überschätzen ihre eigenen Möglichkeiten.
Kann Helfen zur Sucht werden?
Das Leben von Süchtigen dreht sich nur noch um ihre Sucht, um Alkohol, Cannabis, Heroin, Essen, Hungern, Spielen, Kaufen etc. Süchtige sind fixiert auf ihre Sucht. Sie denken zwanghaft an ihr Suchtmittel und können nicht mehr aufhören.
Ähnlich geht es Co-Abhängigen:
Sein Leben dreht sich immer mehr nur noch um das Leben eines Süchtigen, um den Freund, die Freundin, die Tochter, den Sohn, den Vater, die Mutter, den Mann… Co-Abhängige sind fixiert auf Süchtige.
Sie sind süchtig danach, gebraucht zu werden, sich Sorgen zu machen, zu kritisieren, zu helfen, zu gefallen. Co-Abhängige denken zwanghaft an den Süchtigen/ die Süchtige. Sie können nicht mehr aufhören.
Co-Abhängige brauchen es, gebraucht zu werden
Co-Abhängige fühlen sich von Menschen angezogen, von denen sie (angeblich) gebraucht werden. Sie wählen immer wieder Partner, die Probleme haben oder süchtig sind. Co-Abhängige verwechseln Mitleid mit Liebe. Sie verlieben sich in Menschen, die ihnen leid tun.
Co-Abhängige decken Süchtige nach außen
Co-Abhängige nehmen den Süchtigen in Schutz:
Sie entschuldigen ihn, sie vertuschen Fehler, sie beschönigen Schwierigkeiten, sie lügen für ihn. Sie verbünden sich mit ihm gegen die „böse Welt“. Nach außen leben sie nach dem Motto: „Gemeinsam schaffen wir es schon.“
Süchtige lehnen Hilfe ab
Das Gefährliche an Suchtkrankheiten ist, dass die Betroffenen lange nicht einsehen, dass sie süchtig sind und Hilfe brauchen.
Bei den ersten Anzeichen einer Krebserkrankung z. B. gehen die meisten Menschen sofort zum Arzt. Bei einer Suchterkrankung dagegen denken die meisten nicht, dass sie krank sind. Sie glauben, alleine damit fertig zu werden oder „jederzeit wieder aufhören zu können“…
Ein Krebsgeschwür kann lebensgefährlich werden, wenn es nicht von Fachleuten behandelt wird. Genauso wird eine Suchterkrankung immer bedrohlicher, wenn sie geleugnet und nicht behandelt wird.
Was können Co-Abhängige tun ?
Wir lassen die Verantwortung beim Süchtigen
Wir machen uns bewusst, dass wir nicht schuld an der Krankheit sind – auch wenn wir uns schuldig fühlen!
Wir hören auf, uns zu schämen und uns nicht gut genug zu fühlen.
Wir holen uns Hilfe
Im Kontakt mit einem Süchtigen werden viele von uns durcheinander und verwirrt. Wir wissen nicht mehr, was falsch und was richtig ist.
Im Austausch mit Menschen werden wir klarer.
Viele von uns werden im Zusammenleben mit Süchtigen krank. Manche von uns benutzen selbst Suchtmittel, um aus der Situation zu fliehen. Co-Abhängige brauchen ebenso wie Suchtkranke Hilfe und den Austausch mit Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind.
Wir führen keine Krisen herbei
Wir geben die Hoffnung auf, dass inszenierte Krisen beim Süchtigen etwas bewirken können.
Wir denken nach, bevor wir etwas tun.
Wir hören auf, nur auf den Süchtigen zu reagieren.
Manchmal ist die beste Art zu helfen, nicht zu helfen
Wir hören auf, die Angelegenheiten des Süchtigen in Ordnung zu bringen. Manchmal kann das auch heißen, den Süchtigen in seinem Elend zu lassen. Das ist für viele sehr schwer auszuhalten, aber nur so können Süchtige ihren wirklichen Zustand wahrnehmen.
Viele von uns sind mit den Sorgen um den Süchtigen allein. Wir fühlen uns ohnmächtig und manche von uns resignieren vor den Problemen.
Der Austausch mit Menschen, die in einer ähnlichen Situation sind, tut uns gut und gibt uns Hoffnung.
Wir können die Sucht nicht verhindern, heilen oder „weg lieben“
Sucht ist eine Krankheit.
Wir können einen Süchtigen mit unseren Ratschlägen nicht verändern. Die Entscheidung, mit dem Suchtverhalten aufzuhören, kann nur der Süchtige treffen.
Falsch verstandene Hilfe führt beide tiefer in die Krankheit!
Erfahrungen und Aussagen von Betroffenen
Mutter einer Magersüchtigen:
„Meine Tochter ist magersüchtig. Sie wurde immer unzugänglicher und unerreichbarer, je mehr ich mich um sie bemühte. Ich wurde immer verzweifelter. Dann holte ich mir Hilfe. Jetzt lerne ich, ihr Gewicht und ihre Essensmengen nicht mehr zu kontrollieren, sie nicht mehr mit Ratschlägen zu überhäufen und sie ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Anfangs war das furchtbar schwer für mich. Ich kam mir vor wie eine Rabenmutter. Aber ich merke, dass ich ausgeglichener und stabiler werde. Wenn ihr überhaupt etwas helfen kann, dann das.“
Frau eines Alkoholikers:
„Ich wurde immer dicker, weil ich alles in mich hineinfraß. Von meinen Freundinnen hatte keine einen Alkoholiker zum Mann. In meiner Selbsthilfegruppe finde ich mich in den Erzählungen der Anderen oft wieder. Vor allem sehe ich jetzt, dass es einen Weg zurück ins Leben gibt. Und diesen Weg muss ich nicht alleine gehen. Das Gefühl von Wärme und Zuversicht, das ich in unserer Gruppe erlebe, kann ich mit Worten gar nicht beschreiben.“
Mutter einer 16-jährigen Alkoholikerin:
Als ich ins Zimmer meiner Tochter kam, war ich entsetzt über den katastrophalen Zustand. Überall lagen Flaschen herum und es stank vor Dreck. Mein erster Impuls war – wie so oft – aufzuräumen, da fiel mir Gott sei dank ein, dass ich ihr damit nicht helfen würde. Wenn ich die Folgen ihrer Alkoholkrankheit beseitige, kann sie sich weiter vormachen, sie hätte ihr Leben im Griff. Trotzdem tut es mir weh, nichts zu tun…“
Frau eines Drogenabhängigen:
„Ich war Meisterin darin, Dramen zu inszenieren. Ich zettelte jedesmal einen Streit an, wenn mein Mann breit nach Hause kam. Dies war meine Art, ihn unter Druck zu setzen. Heute weiß ich, dass es keine Sinn macht, mit einem Abhängigen im Rausch zu diskutieren. Seitdem ich aufhöre, Krisen ins Leben zu rufen, wird mein Leben wesentlich schöner. Bei Schwierigkeiten bin ich viel gelassener. Mittlerweile habe ich keine Angst mehr vor der Zukunft.“
Ein co-abhängiger Mann:
„Ich machte meiner Frau die schlimmsten Szenen. Ich zählte ihr auf, was sie mir alles antut. Warf ihr vor, dass sie mein Leben verpfuscht… Ich drohte mit Trennung, aber es kam nie dazu. Sie tat mir leid und ich dachte, dass ist Liebe. Ich lenkte immer wieder ein, in der Hoffnung dass es besser wird. Obwohl ich in den ersten Jahre ihrer Abhängigkeit dachte, das halte ich nicht lange aus, ging es jahrelang so weiter.“
Freund einer Esssüchtigen:
„Für meine Freundin hatte ich immer viele Ratschläge parat. Ich wusste genau, welcher Beruf für sie gut war, wie sie sich ihren Arbeitskollegen gegenüber zu verhalten hatte, wie sie am schnellsten ihre Schulden abbauen konnte. Ich strotze vor guten Ratschlägen und fühlte mich unheimlich wichtig. Nur mein eigenes Leben bekam ich immer weniger auf die Reihe.“
Freundin eines Spielsüchtigen:
„Ich wurde selbst süchtig nach Aufregung und Adrenalin.“
Eine Co-Abhängige:
Ein Abhängiger muss die Droge liegenlassen. Ich als Co-Abhängige muss die Finger von dieser Sorte Männer lassen. Obwohl ich weiß, dass sie mir nicht gut tun, zieht es mich immer wieder zu ihnen hin. Zum Glück habe ich mittlerweile gelernt, eine Freundin aus der Selbsthilfegruppe anzurufen und nicht ihn, wenn ich diese destruktive Sehnsucht nach einem destruktiven Mann habe…“
Sohn eines Alkoholikers:
„Irgendwann jagte eine Krise die nächste. Es war immer was los bei uns, immer war Aufregung. Manchmal habe ich mir Ruhe gewünscht und wenn ich Ruhe hatte, war eine unendliche Leere in mir und ich war manchmal froh, wenn wieder etwas passierte.“
Tochter einer Medikamentenabhängigen:
„Egal wo ich war, ob bei Freunden oder in der Schule, immer hatte ich meine Mutter im Kopf und überlegte hin und her, was sie tun oder ändern müsste. Ich spielte die ganze Zeit Drehbücher im Kopf durch, was ich sagen und tun und wie sie reagieren könnte. Ich konnte mich kaum noch auf etwas anderes konzentrieren und hatte an nichts Interesse.“
Ein co-abhängiger Mann:
Meine erste Frau war Alkoholikerin, meine zweite Frau war esssüchtig. Jedes Mal, wenn ich eine Frau kennen lernte, rührten mich gerade die Seiten an, die zeigten, dass sie mit dem Leben nicht zurecht kam. Mein Herz ging über vor lauter Bereitschaft, für diese Frauen da zu sein und ihnen zu helfen. Ich verlor dabei immer mehr den Überblick über mein eigenes Leben und bekam massive Schwierigkeiten. Heute weiß ich, dass ich co-abhängig bin.
Eine co-abhängige Mutter:
„Mein Sohn ist oft nicht in die Schule gegangen, sondern hat sich in der Spielothek herumgetrieben. Ich hatte Angst, dass er von der Schule fliegt und dann alles nur noch schlimmer wird. Immer wieder habe ich ihm Entschuldigungen geschrieben, dass er krank wäre. Heute weiß ich, dass ich ihm damit nicht geholfen habe.“
… in Anlehnung an eine Wanderausstellung, gesehen im Februar 2001 in Hannover