Was Eltern Drogenabhängiger für sich lernen können

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Von Dr. Annedore Schultze, Vlotho

Ich entsinne mich noch gut einer ersten Gesprächsrunde 1972 mit verzweifelten Eltern drogenabhängiger junger Menschen, aus der ich die „unheimliche Belastung“ mitnahm: „Warum ich? Warum mein Kind? Was habe ich falsch gemacht?“ Inzwischen habe ich viele Elterngesprächsrunden erlebt, manche Tagung für Eltern angeboten. Ich weiß deutlicher als damals, daß Eltern vieles lernen können was ihnen besonders schwerfällt, wenn sie Unterstützung haben. Etwas neu lernen, Fehler korrigieren, umlernen, sich verändern, fällt den meisten Erwachsenen schwer. Und doch müssen wir diese Aufgaben bewältigen.

Eltern von Drogenabhängigen sind in erster Linie Eltern: Und so sehr Eltern die Eigenständigkeit ihrer Kinder wichtig ist, so ängstlich verfolgen sie ihre selbst verantworteten Schritte. Eltern müssen lernen loszulassen, um Möglichkeiten des „Wiederankoppelns“ zu erhalten. Das ist kein Widerspruch! Wachsen ist ein gefahrvoller, schmerzhafter Prozeß. Kinder können dann am ehesten wachsen, wenn sie das Gefühl haben: ich kann jederzeit nach Hause kommen, ich kann mich abkoppeln, eigenes suchen und zurückkehren. Natürlich ist das Offensein für „Ankoppelungsmanöver“ ihrer Kinder bei Eltern Drogenabhängiger belastender, schwieriger. Eltern Drogenabhängiger kennen wie alle Eltern die leidigen Diskussionen, in denen es um Sieg oder Niederlage auf beiden Seiten geht. Das Sündenbockschema : „Du hast…“, „Du bist…“ übermalt alle Schattierungen von: „Sollte er gemeint haben…“, „könnte sie geühlt haben…?“. Es ist lernbar, einem solchen Teufelskreis zu widerstehen, und es ist hilfreich für Gespräche zwischen Eltern und Kindern, wenn es beiden gelingt, sich anders als nach diesem Schema zu verhalten.

Beide kurz beschriebenen Lernfelder erscheinen Eltern oft als nichts Besonderes. Leider! Es sind langwierige Lernprozesse, und obgleich ich sie kenne, passiert es mir noch immer, daß ich mich in das Sündenbockspiel eines anderen einlasse und es erst am Ende merke, ganz gleich ob das Gespräch zu meinen Gunsten oder Ungunsten ausgegangen ist.

Eine besondere Bedeutung für Lernen und Umlernen lege ich auf ein Lernen im Gefühlsbereich. Versagenserlebnisse, Kummer, Freudlosigkeit, soziale Isolation – alles Gefühle, die mit den Drogenproblemen von Sohn oder Tochter so eng verknüpft sind – haben oft zu einem Abstumpfen der eigenen gefühlsmäßigen Innenwelt geführt. Das mag zu bestimmten Zeiten überlebenswichtig gewesen sein. Aber langfristig ist es tödlich. Eltern können lernen und müssen lernen, ihren eigenen Gefühlen Raum zu geben, sie zuzulassen. Gewiß sind sie schmerzhaft, aber sie gehören zu ihnen. Keiner von uns kann eine Amputation der Gefühle ohne Schaden durchstehen. Je eher Eltern sich ihre Gefühle von Gekränktsein, von Minderwertigkeit und Versagen, von Schuld, von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, von Enttäuschung, von Mut und Mutlosigkeit bewußt machen und zu ihnen stehen, desto eher werden sie Verständnis für das Suchen und Scheitern ihrer Kinder aufbringen. Desto mehr werden sie auch – und das ist mir besonders wichtig – nach den kleinen Freuden ausschauen oder sie sich schaffen, wenn sie sie an ihrem Wege nicht finden.

Wiederankoppelungsmöglichkeiten der drogenabhängigen Kinder setzen voraus, daß Eltern „überleben“, daß sie sich offen und stabil halten, und daß sie nicht stumm werden, sondern sehr lebendig bei sich sind. Nur wer ganz bei sich sein kann, kann auch ganz zu anderen finden -vielleicht auf eine neue Art einem anderen Ich ein Du werden. Und das heißt dannauch, den anderen in seinen Gefühlen ganz ernst- und annehmen können.

Und ein Weiteres ist speziell für Eltern Drogenabhängiger wichtig: Sie müssen lernen herauszufinden, was sie wirklich wollen. Nichts ist für den seinen Weg neu suchenden jungen Menschen schwerer zu ertragen als Orientierungslosigkeit und mangelnde Persönlichkeit der Eltern. Manchmal erahnen Eltern was sie wollen, aber sie sind ihres Wollens nicht so sicher, weil sie sich verunsichern lassen, ob es „erlaubt ist“. Sie haben insbesondere in den Phasen schmerzhafter Erkenntnisse und sozialer Isolation gelernt, ihre eigenen, vielleicht egoistischen Wünsche zu verleugnen. Ein „gesunder“ Egoismus gehört aber zum Menschsein! Wir müssen lernen, uns damit unserer Umwelt zuzumuten. Meist wird der Egoismus ohnehin in Grenzen verwiesen, wenn er sich so nicht leben läßt, wenn er an die egoistischen Wünsche der anderen Familienmitglieder stößt. Es läßt sich aushandeln, wer wann womit zurückstecken muß. Es müssen nicht immer nur die Eltern sein – auch nicht die Mütter, die sich ihre Wünsche oft nicht eingestehen und sie von daher auch nur versteckt pflegen. Gerade damit belasten sie die Familie.

So könnte der Prozeß eines lebendigen Miteinanders aussehen:
1. Die eigenen Wünsche und Ziele erkennen und aussprechen
2. Ich sein und anderen ihr Ich-Sein ermöglichen
3. Die Wünsche und Ziele des anderen ernst nehmen und annehmen
4. Kompromisse aushandeln, mit denen die anderen leben können

Die dem Menschen eigene Frage ist die Warum-Frage. Wir kennen sie von kleinen Kindern und fördern sie in ihnen. Es ist die Frage, die mit der Menschheitsentwicklung in ursächlichem Zusammenhang steht. Warum ist etwas so?
Und – könnte es auch anders gehen.

Für Eltern Drogenabhängiger führt diese Warum-Frage meist in die Vergangenheit, auch in ihre eigene, und wird zu einer tötenden Leidensspirale. Sie stellen sich die Warum-Frage: Warum habe ich das so und nicht anders gemacht?

Es gibt eine andere Frage, die mir heilsamer erscheint. Es ist die Frage: WAS NUN?

Eltern müssen in ihrer schwierigen Situation lernen, Was nun? zu fragen.
Dabei werden sie sich ihrer Hilflosigkeit sehr bewußt werden, auch die ganze Ausweglosigkeit ihrer Situation schmerzhaft spüren. Die Frage Was nun? bringt sie auch aus der sozialen Isolation heraus zu anderen Menschen. Es geht mir nicht darum zu animieren: fragt andere, Was nun?, sondern darum, sie zum Zuhören aufzufordern, was andere in ähnlichen Situationen getan haben oder tun. Das mag zu eigenen Lösungsansätzen für ihre einmalige Situation auf die Frage: Was nun? beitragen.

Elterngespräche, vor allem die gemeinsame Arbeit in Elternselbsthilfegruppen, lassen Mut und Hoffnung wachsen, vermitteln das so notwendige Gefühl des Angenommenseins und das Erlebnis von Dazugehörigkeit und Vertrauen. Lernen, vor allem schmerzhaftes Umlernen oder Neulernen, setzt voraus, daß Eltern vom Warum? zum Was nun? finden. Die Fragen: „Warum habe ich mich so verhalten, warum ist mir das so schmerzhaft, warum entwickelt sich ausgerechnet mein Kind so?“ enden oft bei anderen Beteiligten oder bei Selbstanklagen. Bei den Fragen „Was nun, was kann ich machen, wie kann ich zur Lösung beitragen?“ bin ich auf mich geworfen. Ich muß überlegen, wo ich neue andere Ansätze versuchen will. Ich muß sie vertrauensvoll wagen und erleben, daß es lange Lernprozesse sind, bei denen ich auch Fehler machen kann. Ja, fast scheint es mir, dass Eltern bei diesem langen Weg auch Verständnis für den langen und schmerzhaften Lernweg des Drogenabhängigen entwickeln, der wie ihr eigener Weg mit Hinfallen und Aufstehen und neuen Lernversuchen reichlich übersät sein kann.

Mich zu suchen, auf andere zuzugehen, mit ihnen im Gespräch etwas von mir zu finden und mitzuteilen, weiterzusuchen, wieder zu finden, mich zu freuen, daß ich immer mehr von mir entdecken, scheinen mir gute Lernschritte zu sein, damit Eltern sich nicht nur als Eltern eines Drogenabhängigen sondern als Personen von Wert entdecken und entwickeln. Als solche entdecken sie eines Tages auch ihr Kind. Und wenn es sie nicht entdeckt, haben sie für sich, für ihren Partner, für andere sinnvoll gelebt und sich nicht verpaßt!

Ich wünsche Ihnen, daß Sie den Satz: „Ich bin wichtig in dieser Welt und der andere ist wichtig“ fröhlich sagen können. Wir können andere immer nur so wichtig nehmen wie uns selbst. Hier ist für alle, besonders für Eltern Drogenabhängiger, noch ein weites Lernfeld.