Vom Nutzen der Sucht für das Leben

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Berthold Kilian
Aus der Zeitschrift „Der Partner“, Kassel

Immer wenn Hoffnung aufkommt,
wenn wir einen neuen, wirksamen Ansatz gefunden haben –
immer wenn die Modelle der Drogenhilfe begonnen werden –
dann laufen wir den Süchtigen nicht nur hinterher –
nein, wir glauben ernsthaft –
daß wir eventuell einen Weg gefunden haben, der ihnen hilft –
wir vermuten, daß sie uns jetzt nicht mehr entkommen können,
daß sie endlich unsere Hilfe haben wollen –
wir wünschen uns für uns, daß wir das Problem wenigstens in einigen Bereichen in den Griff bekommen können –
aber wir sind machtlos –
bekommen es täglich vorgeführt –
werden täglich ausgenutzt –
werden laufend abgelinkt –
werden belogen und nutzen uns ab –
aber das ist ja nichts Neues –
so geht es uns ja seit länger als zwei Jahrzehnten.

Nur manchmal, da vergessen wir eine der Grundwahrheiten der Suchtkrankenhilfe –
sie lautet: „Süchtige machen immer, was sie wollen! Sie machen es immer!“
Nur manchmal, da scheint es so, als würden sie doch das tun, was ihnen empfehlen –
was wir glauben, was ihnen zum Heil gereicht –
wir laufen hinter ihnen her –
und wir spielen ein gemeinsames Spiel –
wir bieten Hilfemöglichkeiten an –
sie nehmen sie – die Hilfe –
und wollen sie zugleich nicht haben.

Wir lassen uns ein –
wir fallen auf uns herein –
aber sie stehlen uns den Erfolg –
und sie laufen vor uns davon –
wir laufen wieder hinterher –
und alle sagen, daß wir nicht genug tun –
aber gemeinsam spielen wir da große Spiel weiter die Süchtigen und wir –
dabei ist das Spiel schon lange aus –
alle haben ihren Gewinn –
alle wollen dabei sein –
aber Therapie machen heißt, das Spiel zu unterbrechen nicht mehr die Spielregeln der Süchtigen annehmen –
sie spielen besser als wir –
sie haben die Sucht auf ihrer Seite –
die Süchtigen und wir –
wir sind in dem Wahn gefangen, daß wir die Sucht besiegen könnten –
wir alle – der Süchtige und wir – wissen, daß es nicht stimmt, aber wir tun so als ob.

Der Süchtige glaubt im stillen immer noch, daß er die Sucht in den Griff bekommt –
vielleicht nicht heute –
aber morgen –
in jedem Fall, wenn er will –
das glauben ja sogar viele Raucher.

Und so wird der Kampf der Drogenbekämpfungskämpfer fortgesetzt-
dann machen Konzeptexperten neue Konzepte –
hochschwellig wechselt mit niedrigschwellig –
unterschwellig hoffen einige auf die Schwellenlosigkeit –
und die Süchtigen machen, was sie wollen –
sie nutzen unsere Hilfe oder benutzen sie –
ganz wie sie wollen –
aber keiner weiß, was hilft –
keiner kann sagen, was Süchtige zur Umkehr zwingt.

Darum muß man die fragen, die es geschafft haben –
sie sind die einzigen, die wissen wie es geht –
wir müssen uns Rat holen bei denen, die Genesung erleben –
wir sollten sie fragen, was sie zum Aussteigen aufgefordert hat –
was Mut gemacht hat –
was den Anstoß gab –
was sie nicht mehr weitermachen ließ –
wir müssen schauen, was ansteckende Genesung macht und nicht nur auf die ansteckende Krankheit sehen.

Ich schreibe das nicht nur als Berthold Kilian der Diplompädagoge,
und auch nicht im Namen des Diakonischen Werks in Hessen und Nassau –
ich sage einfach meine Gedanken als Berthold der Süchtige,
der 28 Jahre abstinent lebt –
als ich den Kampf gegen die Droge endgültig aufgegeben habe –
wo ich auf der ganzen Linie kapituliert habe –
wo ich einsehen mußte, daß die Droge stärker ist als ich –
ich hatte auch keine Kraft mehr zu kämpfen –
aber ich habe Menschen gefunden, die mich durch meine ganz persönliche Krise begleitet haben –
in der Therapie und bei den Anonymen Alkoholikern –
ganz im Gegenteil zu den Leuten, die in langen Jahren bemüht waren, daß ja keine Krise bei mit aufkommen konnte –
denn immer kam einer und stahl mir meine Krise –
immer haben sie mir geholfen –
haben mir Geld geliehen –
haben für mich gelogen –
uns sie haben meine Lügen gerne geglaubt –
die Hilfen, die sie mir gaben, waren keine Hilfen –
sie haben meine Suchtkrankheit entscheidend verlängert.

Gott sei Dank bin ich nicht an ihrer Hilfe gestorben.

Aus dieser Erkenntnis heraus frage ich mich oft, ob die Hilfen, die wir den Süchtigen anbieten, wirklich zur Genesung von der Sucht führen –
oder ob wir nur gemeinsam ein krankmachendes Spiel weiter spielen –
Sind wir Mitspieler?
Spielverführer?
Spielverderber?
Gegenspieler?
oder Falschspieler?

Wer kann es sagen?

Süchtige geben ihr Spiel, ihren Kampf mit der Droge, dann auf, wenn kein Gewinn mehr erkennbar ist –
wenn das Spiel endgültig aus ist –
und sie werden nicht mehr rückfällig, wenn sie etwas gefunden haben, was ihnen mehr bringt als das Spiel mit der Droge –
wenn ihr Leben wieder einen Sinn hat.

Die Suchtkrankenhilfe versucht den Süchtigen eine Gelegenheit zu geben, sich von der Sucht zu lösen –
sagt ihnen, daß sie am besten keine Drogen nehmen sollten.

Aber was das für einen Sinn machen soll für ihr Leben,
das wissen wir, die Suchtberater, oft selber nicht –
und was sagen wir den Süchtigen dann,
wenn sie uns danach fragen…